Die UNI Global Union ist ein weltweiter Gewerkschaftsbund, der Beschäftigte im privatwirtschaftlichen Dienstleistungssektor vertritt, darunter vor allem Arbeitskräfte in den Lagerhallen von Amazon. Wie sehen Sie als Generalsekretärin von diesem Gewerkschaftsbund den Kampf für menschenwürdige Arbeitsbedingungen bei Amazon?
Der Kampf um bessere Arbeitsbedingungen bei Amazon – höhere Löhne, Sicherheit am Arbeitsplatz und ein Ende der unablässigen Belastungen – wird in aller Welt engagiert geführt. Tatsächlich erleben wir seit fünf Jahren einen enormen Anstieg an Aktivitäten von Arbeiterinnen und Arbeitern und Gewerkschaften. Zudem hat in der gesamten Zivilgesellschaft das Bewusstsein dafür zugenommen, dass es zu menschenunwürdigen Bedingungen kommt, wenn Amazon in einer Stadt tätig wird.
Und der Kampf um Arbeitsbedingungen hat jetzt auch Regulierungsbehörden und die politische Bühne erreicht: In vielen Ländern ist kaum noch „regulatorisches Wohlwollen“ gegenüber dem Unternehmen vorhanden. Das Europäische Parlament hat sogar die seltene Maßnahme ergriffen, den Amazon-Lobbyisten den Zugang zu ihrem Gebäude zu verwehren, weil das Unternehmen es ablehnte, sich auf Anhörungen für seine gewissenlosen Verhaltensweisen zu rechtfertigen. In den USA veranlasste Senator Bernie Sanders eine Untersuchung über Amazons Sicherheitsbestimmungen am Arbeitsplatz. Und mehrere US-Staaten erließen zum Schutz von Beschäftigen in Lagerhäusern Gesetze, die spezifisch auf die Praktiken von Amazon ausgerichtet waren.
Amazon spürt den Druck. Auf Reisen nach Großbritannien oder Frankreich fallen einem sofort die PR-Kampagnen des Unternehmens auf, zu denen auch Fernsehwerbung gehört, in der sich Amazon für seine wunderbaren Arbeitsbedingungen rühmt. Echt? Welche anderen Unternehmen haben das nötig? Wenn ich andere Arbeitgeber treffe, ist deren erste Bemerkung häufig: „Wir sind nicht Amazon.“
Aber obwohl Amazon-Beschäftigte mit allen Mitteln für das Recht auf gewerkschaftliche Vertretung kämpfen, sind viel zu wenige von ihnen durch Tarifverträge abgedeckt.
Aber obwohl Amazon-Beschäftigte mit allen Mitteln für das Recht auf gewerkschaftliche Vertretung kämpfen, sind viel zu wenige von ihnen durch Tarifverträge abgedeckt. In Kanada hat die Gewerkschaft Unifor das Recht erstritten, dass die Amazon-Beschäftigten in British Colombia über einen Beitritt in die Gewerkschaft abstimmen können, und kämpft gegen die gewerkschaftsfeindliche Kampagne des Unternehmens. Die Confédération des syndicats nationaux in Quebec hat im Mai die Wahl zur Anerkennung der Gewerkschaft gewonnen und vertritt 200 Amazon-Beschäftigte – auch hier nach einer schwierigen Kampagne. In Großbritannien setzen sich die Gewerkschaft GMB und Amazon-Beschäftigte gegen die brutale Kampagne des Unternehmens zur Wehr, die Gewerkschaft zu unterdrücken. In Deutschland geht die Mobilisierungskampagne weiter, aber Tarifverhandlungen scheinen noch in weiter Ferne. In Indien fordern die Arbeitskräfte von Amazon Lohnerhöhungen und bessere Arbeitsbedingungen. In Frankreich und Italien, wo es Branchentarifverträge gibt, konnten die Beschäftigten mit Streiks und Protesten bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen und Verhandlungen für bessere Rechte führen. In Italien kam es sogar zu einer Vereinbarung mit den Gewerkschaften.
Kurz gesagt haben die kontinuierlichen Bemühungen und die anhaltende Solidarität in einigen Bereichen zu besseren Bedingungen geführt. Aber Amazons arbeitnehmerfeindliche Strategien zeigen, dass wir die gewerkschaftliche Organisierung weiterhin unterstützen und auch Amazons Verstöße gegen Arbeitsrechte öffentlich machen müssen.
Die Vereinigten Staaten sind Amazons erster und größter Markt. Gleichzeitig sind dort die Arbeitsbedingungen besonders hart – auch aufgrund der schwachen Arbeitsrechte in den USA. Wo steht der Kampf der Amazon-Beschäftigten in diesem Land?
Die Amazon-Beschäftigten in den USA setzen sich engagierter als je zuvor für ihre Rechte ein. Als Arbeitskräfte in Bessemer, Alabama, damit begannen, für die Gewerkschaft des Einzelhandels, Großhandels und der Warenhäuser RWDSU zu organisieren, löste das eine Lawine an Organisierungskampagnen bei Amazon und anderswo aus. Das Ergebnis der ersten Abstimmung über eine Gewerkschaftsgründung im Jahr 2021 war aufgrund von Amazons gesetzeswidrigen, gewerkschaftsfeindlichen Taktiken so verfälscht, dass die US-Regierung es annullierte. Ich war in Bessemer und habe dort mit den führenden Vertreterinnen und Vertretern der Belegschaft gesprochen. Auch wenn das Ergebnis der zweiten Wahl noch aussteht, weiß ich daher, dass die Arbeitskräfte ihren Kampf weiterführen werden, bis sie gewinnen. Eine dritte Abstimmung wäre möglich.
Kürzlich hat sich die ALU, die Amazon Labor Union, der Transportarbeitergewerkschaft Teamsters angeschlossen. Diese Partnerschaft vereint die Energie der Basis der ALU mit den umfassenden Erfahrungen und Ressourcen der Teamsters, was eine stärkere Organisierung und eine starke Stimme für die Amazon-Beschäftigten verspricht. Unabhängig von der ALU haben die Teamsters in der gesamten USA rollierende Streiks organisiert, um gegen die schlechten Arbeitsbedingungen von Auslieferungsfahrern und -fahrerinnen zu protestieren.
Im britischen Coventry haben Arbeitskräfte zusammen mit ihrer Gewerkschaft GMB in den letzten beiden Jahren eine massive gewerkschaftliche Präsenz in den Amazon-Lagerhallen aufgebaut. Jetzt kämpfen sie darum, endlich von der Amazon-Geschäftsleitung als Tarifverhandlungspartner anerkannt zu werden. Doch das Unternehmen, das die GMB-Organisatorin Amanda Gearing als „außer Kontrolle geraten“ bezeichnet, reagiert mit heftigen gewerkschaftsfeindlichen Äußerungen. Warum ist Amazon, in Coventry und andernorts, so vehement gewerkschaftsfeindlich?
Leider ist das Union Busting, die systematische Bekämpfung und Unterdrückung von Arbeitnehmervertretungen, in den USA eine tief verwurzelte und ideologisch begründete Praktik – eine Multimilliarden-Dollar-Industrie, die auf unablässige psychologische Manipulation und Druckausübung zurückgreift, um Beschäftigte dazu zu bringen, bei den Abstimmungen über eine Gewerkschaftsgründung mit „Nein“ zu stimmen. Es ist überaus grauenhaft, dass Amazon diese Praktiken nach Großbritannien exportiert hat. Diese Art von Umgang mit Arbeitsrechten mag in den USA erlaubt sein, ist aber schockierend und sollte nirgendwo toleriert werden.
Amazons absolut gewerkschaftsfeindliche Haltung steht im Einklang mit der tiefsitzenden antigewerkschaftlichen Doktrin.
Amazons absolut gewerkschaftsfeindliche Haltung in Coventry und überall auf der Welt steht im Einklang mit der tiefsitzenden antigewerkschaftlichen Doktrin und wird von dem Unternehmen gerade auf ein neues Niveau gehoben. Sie ist tief verwurzelt in Amazons Besessenheit, die Kontrolle über seine Belegschaft auszuüben. Hier sei nur daran erinnert, wie das Unternehmen mit seiner ständigen Überwachung und seinen Instrumenten der Leistungsbewertung den Druck auf seine Beschäftigten erhöht. Amazon verhandelt schon immer nur dann mit den Gewerkschaften, wenn das Unternehmen gesetzlich dazu verpflichtet ist oder durch die Macht der Belegschaft dazu gezwungen wird. Trotz des kürzlichen Rückschlags in Coventry wird die Macht der Arbeiterinnen und Arbeiter Amazon schließlich an den Verhandlungstisch bringen.
So, wie das Unternehmen größer geworden ist und sich weltweit ausgebreitet hat, nimmt auch der Kampf bei Amazon zu. In Indien mussten die Beschäftigten kürzlich während einer Hitzewelle bei unvorstellbaren Temperaturen arbeiten. Können Sie uns etwas über die Probleme bei Amazon in Indien erzählen und auch darüber, wie sich die Arbeiterinnen und Arbeiter organisieren, um sich gegen die Bedingungen zu wehren?
In Indien sind die in den Amazon-Lagerhäusern und in der Auslieferung Beschäftigten mörderischen Arbeitsbedingungen ausgesetzt, darunter extremer Hitze und Einschränkungen bei Grundbedürfnissen wie Trink- und Toilettenpausen. Ihr Kampf für einen sicheren, kühlen und gesunden Arbeitsplatz hat auf nationaler und internationaler Ebene zu Schlagzeilen geführt. Aufgrund dieser Berichterstattung und der von der UNI unterstützten Organisierungsarbeit der Amazon India Workers Association war Amazon gezwungen, die Sicherheitsmängel in seinem Lager von Manesar einzuräumen. Jetzt hat der E-Commerce-Riese versprochen, den Beschäftigten ihre rechtmäßigen Pausen zuzugestehen. Auch die Nationale Menschenrechtskommission Indiens hat reagiert, als die erschreckenden, unmenschlichen Arbeitsbedingungen bei Amazon publik gemacht wurden. Nach Medienberichten, dass die Geschäftsleitung im Lagerhaus in Manesar einen 24-jährigen Arbeiter unterschreiben ließ, während einer Rekord-Hitzewelle im Mai keine Toiletten- oder Trinkpause einzulegen, schritt die Kommission ein.
Das ist jedoch noch nicht alles. Einer von der UNI durchgeführten neuen Umfrage zufolge leiden Tausende von Beschäftigten in den Lagerhäusern und im Auslieferungsbetrieb von Amazon in Indien unter starkem Druck und unsicheren Bedingungen, während sie mit unzureichender Bezahlung um ihren Lebensunterhalt kämpfen müssen. Die indischen Beschäftigten sind mit einer beunruhigenden Realität konfrontiert, die die Erfahrungen der Amazon-Beschäftigten weltweit widerspiegelt. Es ist klar, dass die Beschäftigten starke Gewerkschaften brauchen, um die Bedingungen bei Amazon in Indien und darüber hinaus zu verbessern.
In letzter Zeit konnten die Gewerkschaften auch bei den Angestellten von Amazon Boden gutmachen, und zwar sowohl an seinem europäischen Hauptsitz in Luxemburg als auch bei seinem Cloud-Computing-Anbieter Amazon Web Services in Belgien. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Die zunehmende gewerkschaftliche Stärke unter den Amazon-Angestellten wie in Luxemburg und Belgien zeigt, dass auf allen Beschäftigungsebenen bei Amazon Besorgnis über die Bedingungen am Arbeitsplatz und die Arbeitsplatzsicherheit herrscht. Das wiederum macht deutlich, dass es nur dann zu einer fairen Behandlung aller Beschäftigten kommen kann, wenn sie sich gewerkschaftlich organisieren und Tarifverhandlungen führen können. Die Beschäftigten könnten zu einer wirklichen Macht werden, wenn sie sich branchenübergreifend und rund um die Welt zusammenschließen.
Amazons umfassende Überwachung am Arbeitsplatz und die Art und Weise, wie Algorithmen und KI genutzt werden, um die Beschäftigten unter Druck zu setzen, sind bekannt. Wie gehen die Gewerkschaften mit diesem Problem um? Und welche Rolle spielt Amazon im globalen KI-Wettbewerb?
Amazon betreibt eine nahezu totale Überwachung. Zusammen mit hochentwickelten algorithmischen Management-Tools ermöglicht dies dem Unternehmen, seine Beschäftigten zu überwachen, unter Druck zu setzen und gelegentlich auch zu disziplinieren. Amazon ist führend bei der Entwicklung dieser ausgefeilten Tools, die den Spitznamen „Bossware“ erhalten haben und auch von vielen anderen Unternehmen übernommen werden.
Amazon betreibt eine nahezu totale Überwachung.
Das ist das Top-Thema an den meisten Arbeitsstätten und die Gewerkschaften wollen dem mit diversen Forderungen entgegenwirken. In vielen Ländern werden rechtliche Schritte in Erwägung gezogen, um die Überwachung und den damit einhergehenden Druck einzuschränken. Mehrere US-Staaten haben bereits Gesetze zum Schutz von Beschäftigten in Lagerhäusern erlassen, um sicherzustellen, dass diese Arbeitskräfte ihre Pausen machen können. Viele für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz zuständige Regulierungsbehörden sind schon eingeschritten und bestehen darauf, dass Amazon den physischen und psychischen Schäden entgegenwirkt, die durch ihr brutales System verursacht werden. Einigen Betriebsräten ist es schon gelungen, die täglich geforderten Quoten etwas herunterzuschrauben. Und im Idealfall könnten die Beschäftigten in Tarifverhandlungen ihre Arbeitsbedingungen festlegen und Gesundheits- und Sicherheitsregeln durchsetzen, ohne Angst vor Vergeltungsmaßnahmen haben zu müssen.
In Deutschland betreibt ver.di schon seit über zehn Jahren die gewerkschaftliche Organisierung bei Amazon und hat dabei schon beträchtliche Fortschritte erzielt. Allerdings weigert sich Amazon immer noch, den Branchentarifvertrag zu unterzeichnen. Was muss passieren, damit Amazon an den Verhandlungstisch kommt?
Ver.dis Druck auf Amazon war teilweise von Erfolg gekrönt. Die Löhne sind deutlich gestiegen und in einigen Lagerhäusern gibt es nun Betriebsräte unter der Leitung von Gewerkschaftsmitgliedern. Einige Betriebsräte konnten erfolgreich gegen den quotenbedingten Druck am Arbeitsplatz vorgehen. Amazon verweigert jedoch weiterhin jede Beteiligung an Tarifverhandlungen, was einerseits auf seiner ideologischen Gewerkschaftsfeindlichkeit beruht und andererseits auf seine Angst vor einem Dominoeffekt in anderen Ländern zurückzuführen ist.
Um Amazon an den Verhandlungstisch zu bringen, ist der kontinuierliche Druck seitens ver.di in Verbindung mit einer breiteren Unterstützung aus der Öffentlichkeit, der Politik und von Regulierungsbehörden erforderlich. Ich bin zuversichtlich, dass die Beschäftigten in Deutschland mit ihren Bemühungen Erfolg haben werden.
Aus dem Englischen von Ina Goertz